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Text File  |  1998-03-14  |  20KB  |  499 lines

  1. Die Klagelieder.
  2.  
  3. \1\
  4. Jerusalems Klage über sein Elend, Bekenntnis der Schuld und
  5. Bitte um Hilfe und Vergeltung an den Feinden.
  6.  
  7. $1$ Wehe, wie sitzt so einsam da die [einst] volkreiche Stadt!
  8. Sie ist einer Witwe gleich geworden, die Groβe unter den
  9. Nationen! Die Fürstin über die Provinzen ist zur Zwangsarbeit
  10. erniedrigt!
  11.  
  12. $2$ Sie weint und weint des Nachts, und ihre Tränen [laufen]
  13. über ihre Wangen. Sie hat keinen Tröster unter allen, die sie
  14. liebten; alle ihre Freunde haben treulos an ihr gehandelt, sind
  15. ihr zu Feinden geworden.
  16.  
  17. $3$ Gefangen ist Juda weggezogen aus Elend und aus schwerem
  18. Sklavendienst. Es wohnt unter den Nationen, findet keinen
  19. Rastplatz. Alle seine Verfolger haben es erreicht - mitten in
  20. der Bedrängnis.
  21.  
  22. $4$ Die Wege nach Zion trauern, weil niemand zum Fest kommt.
  23. All ihre Tore sind menschenleer, ihre Priester seufzen, ihre
  24. Jungfrauen sind betrübt, und ihr selbst ist bitter weh.
  25.  
  26. $5$ Ihre Gegner sind obenauf, ihre Feinde haben Ruhe. Denn der
  27. HERR hat sie betrübt wegen der Menge ihrer Verbrechen. Ihre
  28. Kinder sind vor dem Gegner her in Gefangenschaft gezogen.
  29.  
  30. $6$ So zog aus der Tochter Zion all ihre Pracht aus. Ihre
  31. Obersten sind wie Hirsche geworden, die keine Weide finden, und
  32. kraftlos zogen sie dahin vor dem Verfolger.
  33.  
  34. $7$ Jerusalem denkt in den Tagen ihres Elends und ihrer
  35. Heimatlosigkeit an all ihre Kostbarkeiten, die es [bei ihr] gab
  36. seit den Tagen der Vorzeit, [jetzt,] da ihr Volk durch die Hand
  37. des Gegners gefallen ist und sie keinen Helfer hat. Die Gegner
  38. sehen ihr zu, lachen darüber, daβ es mit ihr aus ist.
  39.  
  40. $8$ Schwer gesündigt hat Jerusalem. Darum ist sie zum Gespött
  41. geworden; alle ihre Verehrer verachten sie, weil sie ihre Blöβe
  42. gesehen haben. Sie selbst aber seufzt und wendet sich ab.
  43.  
  44. $9$ Ihre Unreinheit [klebt] an ihrem Saum; ihr Ende hat sie
  45. nicht bedacht. So ist sie entsetzlich heruntergekommen, ohne daβ
  46. einer sie tröstet. Sieh an, HERR, mein Elend, denn der Feind tut
  47. sich groβ!
  48.  
  49. $10$ Seine Hand hat der Gegner ausgestreckt nach all ihren
  50. Kostbarkeiten. Ja, sie muβte mitansehen, wie Nationen in ihr
  51. Heiligtum kamen, denen du geboten hattest, sie sollten dir nicht
  52. in die Versammlung kommen!
  53.  
  54. $11$ All ihr Volk seufzt auf der Suche nach Brot; sie geben
  55. ihre Kostbarkeiten für Nahrung hin, um sich am Leben zu halten.
  56. Siehe, HERR, und schau, wie verachtet ich bin!
  57.  
  58. $12$ Ist es [noch] nicht zu euch [gedrungen], alle, die ihr
  59. des Weges zieht? Schaut und seht, ob es einen Schmerz gibt wie
  60. meinen Schmerz, der mir angetan worden ist, mit dem [mich] der
  61. HERR betrübt hat am Tag seiner Zornglut!
  62.  
  63. $13$ Aus der Höhe sandte er Feuer in meine Gebeine und zertrat
  64. sie. Er spannte ein Netz für meine Füβe, zwang mich zur Umkehr.
  65. Er machte mich einsam und allezeit krank.
  66.  
  67. $14$ Schwer ist das Joch meiner Verbrechen, durch seine Hand
  68. zusammengeflochten. Sie kamen auf meinen Hals; [das] brach mir
  69. die Kraft. Der Herr lieferte mich solchen in die Hände, denen
  70. ich nicht standhalten kann.
  71.  
  72. $15$ Alle meine Starken verwarf der Herr in meiner Mitte; er
  73. rief gegen mich ein Treffen aus, um meine jungen Männer zu
  74. zerschmettern; der Herr hat der Jungfrau, der Tochter Juda, die
  75. Kelter getreten.
  76.  
  77. $16$ Darüber muβ ich weinen, mein Auge, mein Auge zerflieβt
  78. von Wasser. Denn ein Tröster, der meine Seele erquicken könnte,
  79. ist fern von mir. Meine Söhne sind vereinsamt, denn der Feind
  80. hat die Oberhand.
  81.  
  82. $17$ Zion breitet ihre Hände aus, [doch] da ist niemand, der
  83. sie tröstet. Der HERR entbot gegen Jakob seine Nachbarn als
  84. seine Feinde. Jerusalem wurde unter ihnen zum Abscheu.
  85.  
  86. $18$ Gerecht ist er, der HERR, denn gegen seinen Befehl bin
  87. ich widerspenstig gewesen. Hört doch, alle ihr Völker, und seht
  88. meinen Schmerz! Meine Jungfrauen und meine jungen Männer sind in
  89. die Gefangenschaft gezogen.
  90.  
  91. $19$ Ich rief nach denen, die mich geliebt hatten, sie aber
  92. betrogen mich. Meine Priester und meine Ältesten kamen in der
  93. Stadt um, als sie für sich Nahrung suchten, um sich am Leben zu
  94. halten.
  95.  
  96. $20$ Sieh, HERR, wie mir angst ist! Mein Inneres glüht, mein
  97. Herz dreht sich mir im Leibe um, weil ich so sehr widerspenstig
  98. gewesen bin. Drauβen hat mich das Schwert der Kinder beraubt
  99. [und] drinnen der Tod.
  100.  
  101. $21$ Man hört, wie ich seufze, [doch] habe ich keinen Tröster.
  102. Alle meine Feinde haben mein Unglück gehört, haben sich gefreut,
  103. daβ du es getan hast. Führst du den Tag herbei, den du
  104. verkündigt hast, dann ergeht es ihnen wie mir.
  105.  
  106. $22$ All ihre Bosheit komme vor dich! Handle an ihnen, wie du
  107. an mir gehandelt hast wegen all meiner Verbrechen! Denn
  108. zahlreich sind meine Seufzer, und mein Herz ist krank.
  109.  
  110. \2\
  111. Unheil im Land und in Jerusalem durch Gottes Zorn gemäβ seiner
  112. Warnung - Zions Schreien nach Gottes Erbarmen.
  113.  
  114. $1$ Wehe, wie umwölkt in seinem Zorn der Herr die Tochter
  115. Zion! Er hat die Herrlichkeit Israels vom Himmel zur Erde
  116. geworfen und am Tag seines Zorns nicht gedacht an den Schemel
  117. seiner Füβe.
  118.  
  119. $2$ Vernichtet hat der Herr - ohne Mitleid - alle Weideplätze
  120. Jakobs; er hat in seinem Grimm niedergerissen die befestigten
  121. Städte der Tochter Juda; zu Boden gestürzt, entweiht hat er das
  122. Königreich und seine Obersten.
  123.  
  124. $3$ In Zornesglut hat er abgehauen jedes Horn Israels; er hat
  125. seine Rechte zurückgezogen angesichts des Feindes und hat Jakob
  126. in Brand gesteckt wie ein flammendes Feuer, das ringsum friβt.
  127.  
  128. $4$ Seinen Bogen hat er gespannt wie ein Feind, seine rechte
  129. Hand erhoben wie ein Gegner und hat alles den Augen Liebliche
  130. umgebracht. In das Zelt der Tochter Zion hat er seinen Grimm
  131. ausgegossen wie Feuer.
  132.  
  133. $5$ Der Herr ist wie ein Feind geworden. Er hat Israel
  134. vernichtet, vernichtet alle ihre Paläste, seine befestigten
  135. Städte zerstört. So hat er in der Tochter Juda Weh und
  136. Wehgeschrei gehäuft.
  137.  
  138. $6$ Und er hat seine Hütte abgebrochen wie die eines Gartens,
  139. hat zerstört [den Ort für] seine Festversammlung. Der HERR hat
  140. in Zion Festversammlung und Sabbat in Vergessenheit geraten
  141. lassen und im Toben seines Zorns König und Priester verworfen.
  142.  
  143. $7$ Verstoβen hat der Herr seinen Altar, entweiht sein
  144. Heiligtum; er hat die Mauern ihrer Paläste der Hand des Feindes
  145. preisgegeben; Lärm erhob sich im Haus des HERRN wie an einem
  146. Festtag.
  147.  
  148. $8$ Der HERR hatte es sich vorgenommen, die Mauer der Tochter
  149. Zion zu zerstören; er spannte die Meβschnur, wandte seine Hand
  150. vom Vernichten nicht ab und versetzte Bollwerk und Mauer in
  151. Trauer; zusammen schwanden sie dahin.
  152.  
  153. $9$ Eingesunken in die Erde sind ihre Tore, zerstört und
  154. zerschlagen hat er ihre Riegel. Ihr König und ihre Obersten sind
  155. unter den Nationen, es gibt kein Gesetz mehr. Auch ihre
  156. Propheten erhalten kein Gesicht von dem HERRN.
  157.  
  158. $10$ Schweigend sitzen auf der Erde die Ältesten der Tochter
  159. Zion; sie haben Staub auf ihr Haupt geworfen, Sacktuch sich
  160. umgegürtet; die Jungfrauen Jerusalems senken ihr Haupt zur Erde.
  161.  
  162. $11$ In Tränen vergehen meine Augen, mein Inneres glüht, meine
  163. Leber hat sich zur Erde ergossen wegen des Zusammenbruchs der
  164. Tochter meines Volkes, weil Kind und Säugling auf den Plätzen
  165. der Stadt verschmachten.
  166.  
  167. $12$ Zu ihren Müttern sagen sie: `Wo ist Brot und Wein?,
  168. während sie wie tödlich Verwundete verschmachten auf den Plätzen
  169. der Stadt, während ihre Seele sich ergieβt in den Schoβ ihrer
  170. Mütter.
  171.  
  172. $13$ Womit soll ich dir aufhelfen, womit dich vergleichen,
  173. Tochter Jerusalem? Was soll ich dir gleichstellen, damit ich
  174. dich tröste, du Jungfrau, Tochter Zion? Denn so groβ wie das
  175. Meer ist dein Zusammenbruch. Wer kann dich heilen?
  176.  
  177. $14$ Deine Propheten schauten dir Trug und Tünche; und sie
  178. deckten deine Schuld nicht auf, dein Geschick zu wenden, sondern
  179. sie schauten dir Aussprüche zu Lüge und Verführung.
  180.  
  181. $15$ Alle, die des Weges ziehen, klatschen über dich in die
  182. Hände, sie zischen und schütteln ihren Kopf über die Tochter
  183. Jerusalem: Ist das die Stadt, von der man sagte: Der Schönheit
  184. Vollendung, Wonne der ganzen Erde?
  185.  
  186. $16$ Alle deine Feinde reiβen ihren Mund über dich auf, sie
  187. zischen und knirschen mit den Zähnen. Sie sagen: Wir haben
  188. vernichtet! Ja, dies ist der Tag, den wir erhofft haben! Wir
  189. haben [es] erreicht, wir haben [es] gesehen!
  190.  
  191. $17$ Getan hat der HERR, was er sich vorgenommen hatte, er hat
  192. sein Wort zur Vollendung gebracht, das er von den Tagen der
  193. Vorzeit her entboten hatte. Er hat ohne Mitleid niedergerissen
  194. und hat den Feind über dich fröhlich sein lassen, er hat das
  195. Horn deiner Gegner erhöht.
  196.  
  197. $18$ Schrei laut um Hilfe zum Herrn, stöhne, du Tochter Zion!
  198. Laβ wie einen Bach die Tränen rinnen Tag und Nacht! Gönne dir
  199. keine Ruhe! Dein Augapfel stehe nicht still!
  200.  
  201. $19$ Auf, wimmere bei Nacht, bei Beginn der Nachtwachen,
  202. schütte wie Wasser dein Herz aus vor dem Angesicht des Herrn!
  203. Erhebe deine Hände zu ihm um der Seele deiner Kinder willen, die
  204. vor Hunger verschmachten an allen Straβenecken!
  205.  
  206. $20$ Sieh, HERR, und schaue, an wem du so gehandelt hast!
  207. Dürfen Frauen ihre Leibesfrucht essen, die liebevoll gepflegten
  208. Kinder? Dürfen im Heiligtum des Herrn Priester und Prophet
  209. erschlagen werden?
  210.  
  211. $21$ Am Boden auf den Straβen liegen Kind und Greis; meine
  212. Jungfrauen und meine jungen Männer sind durchs Schwert gefallen.
  213. Erschlagen hast du am Tag deines Zornes, abgeschlachtet ohne
  214. Mitleid.
  215.  
  216. $22$ Meine Schrecknisse hast du von allen Seiten herbeigerufen
  217. wie zu einem Festtag, und am Tag des Zornes des HERRN gab es
  218. keinen Entkommenen und Entronnenen: Die ich liebevoll gepflegt
  219. und groβgezogen habe, mein Feind hat sie vertilgt.
  220.  
  221. \3\
  222. Klage des Propheten über sein und des Volkes Elend -
  223. Anerkenntnis der Treue Gottes - Aufruf zum Sündenbekenntnis -
  224. Bitte um Rettung und Vergeltung an den Feinden
  225.  
  226. $1$ Ich bin der Mann, der Elend sah durch die Rute seines
  227. Grimmes. $2$ Mich trieb er weg und lieβ mich gehen in
  228. Finsternis und ohne Licht. $3$ Nur gegen mich wendet er immer
  229. wieder seine Hand, jeden Tag.
  230.  
  231. $4$ Verfallen lieβ er mein Fleisch und meine Haut, zerbrach
  232. meine Knochen, $5$ umbaute und umgab mich mit Gift und Mühsal.
  233. $6$ Er lieβ mich wohnen in Finsternissen, wie die Toten der
  234. Urzeit.
  235.  
  236. $7$ Er ummauerte mich, daβ ich nicht herauskann; er legte mich
  237. in schwere, bronzene Ketten. $8$ Auch wenn ich schrie und um
  238. Hilfe rief, verschloβ er [sein Ohr vor] meinem Gebet. $9$ Er
  239. vermauerte meine Wege mit Quadersteinen, kehrte meine Pfade um.
  240.  
  241. $10$ Ein lauernder Bär war er mir, ein Löwe im Versteck.
  242. $11$ Er lieβ mich vom Weg abirren, zerfleischte mich und
  243. machte mich menschenleer. $12$ Er spannte seinen Bogen und
  244. stellte mich hin als Ziel für den Pfeil.
  245.  
  246. $13$ Er lieβ in meine Nieren dringen die Söhne seines Köchers.
  247. $14$ Ich wurde meinem ganzen Volk zum Gelächter, ihr Spottlied
  248. [bin ich] jeden Tag. $15$ Er sättigte mich mit bitteren
  249. Kräutern und tränkte mich mit Wermut.
  250.  
  251. $16$ Und er lieβ auf Kies meine Zähne beiβen, er trat mich
  252. nieder in den Staub. $17$ Du verstieβest meine Seele aus dem
  253. Frieden, ich habe vergessen, was Glück ist. $18$ Und ich
  254. sagte: Verloren ist mein Glanz und meine Hoffnung auf den HERRN.
  255.  
  256. $19$ An mein Elend und meine Heimatlosigkeit zu denken,
  257. [bedeutet] Wermut und Gift! $20$ [Und doch] denkt und denkt
  258. meine Seele daran und ist niedergedrückt in mir. $21$ [Doch]
  259. dies will ich mir in den Sinn zurückrufen, darauf will ich
  260. hoffen:
  261.  
  262. $22$ Ja, die Gnadenerweise des HERRN sind nicht zu Ende, ja,
  263. sein Erbarmen hört nicht auf, $23$ es ist jeden Morgen neu.
  264. Groβ ist deine Treue. $24$ Mein Anteil ist der HERR, sagt
  265. meine Seele, darum will ich auf ihn hoffen.
  266.  
  267. $25$ Gut ist der HERR zu denen, die auf ihn harren, zu der
  268. Seele, die nach ihm fragt. $26$ Es ist gut, daβ man schweigend
  269. hofft auf die Rettung des HERRN. $27$ Gut ist es für den Mann,
  270. wenn er das Joch in seiner Jugend trägt.
  271.  
  272. $28$ Er sitze einsam und schweige, wenn er es ihm auferlegt.
  273. $29$ Er lege seinen Mund in den Staub, vielleicht gibt es
  274. Hoffnung. $30$ Er biete dem, der ihn schlägt, die Wange,
  275. sättige sich an Schmach.
  276.  
  277. $31$ Denn nicht für ewig verstöβt der Herr, $32$ sondern
  278. wenn er betrübt hat, erbarmt er sich nach der Fülle seiner
  279. Gnadenerweise. $33$ Denn nicht von Herzen demütigt und betrübt
  280. er die Menschenkinder.
  281.  
  282. $34$ Daβ man alle Gefangenen des Landes unter seinen Füβen
  283. zertritt, $35$ daβ man das Recht eines Mannes beugt vor dem
  284. Angesicht des Höchsten, $36$ daβ man einen Menschen irreführt
  285. in seinem Rechtsstreit - sollte der Herr es nicht sehen?
  286.  
  287. $37$ Wer ist es, der da sprach, und es geschah, - [und] der
  288. Herr hat es nicht geboten? $38$ Kommt nicht aus dem Mund des
  289. Höchsten das Böse und das Gute hervor? $39$ Was beklagt sich
  290. der Mensch, der [noch] am Leben ist, [was beklagt sich] der Mann
  291. über seine Sündenstrafe?
  292.  
  293. $40$ Prüfen wollen wir unsere Wege und erforschen und umkehren
  294. zu dem HERRN! $41$ Laβt uns unser Herz samt den Händen erheben
  295. zu Gott im Himmel! $42$ Wir, wir haben die Treue gebrochen und
  296. sind widerspenstig gewesen; du [aber], du hast nicht vergeben.
  297.  
  298. $43$ Du hast dich in Zorn gehüllt und hast uns verfolgt; du
  299. hast uns umgebracht ohne Mitleid. $44$ Du hast dich in eine
  300. Wolke gehüllt, so daβ kein Gebet hindurchdrang. $45$ Du hast
  301. uns zum Kehricht und zum Ekel gemacht mitten unter den Völkern.
  302.  
  303. $46$ Alle unsere Feinde reiβen ihren Mund über uns auf. $47$
  304. Grauen und Grube sind uns zuteil geworden, Untergang und
  305. Zusammenbruch. $48$ Wasserbäche läβt mein Auge flieβen wegen
  306. des Zusammenbruchs der Tochter meines Volkes.
  307.  
  308. $49$ Mein Auge ergieβt sich und kommt nicht zur Ruhe, [tränt]
  309. unaufhörlich, $50$ bis der HERR vom Himmel herunterschaut und
  310. hinsieht. $51$ Mein Auge schmerzt mich wegen all der Töchter
  311. meiner Stadt.
  312.  
  313. $52$ Wie einen Vogel jagten und jagten mich [jene], die
  314. grundlos meine Feinde sind. $53$ Sie stürzten mein Leben in
  315. die Grube und warfen Steine auf mich. $54$ Wasser strömten
  316. über mein Haupt. Ich sagte [mir]: Ich bin [vom Leben]
  317. abgeschnitten!
  318.  
  319. $55$ Da rief ich deinen Namen an, o HERR, aus der Grube tief
  320. unten. $56$ Du hast meine Stimme gehört. Verbirg dein Ohr
  321. nicht vor meinem Seufzen, meinem Schreien! $57$ Du nahtest an
  322. dem Tag, als ich dich anrief; du sprachst: Fürchte dich nicht!
  323.  
  324. $58$ Du hast, Herr, meinen Rechtsstreit geführt, hast mein
  325. Leben erlöst. $59$ Du, HERR, hast meine Entrechtung gesehen.
  326. Verhilf mir zu meinem Recht! $60$ Du hast gesehen all ihre
  327. Rachgier, alle ihre Pläne gegen mich.
  328.  
  329. $61$ Gehört hast du ihr Schmähen, o HERR, alle ihre Pläne
  330. gegen mich, $62$ das Gerede derer, die gegen mich aufgetreten
  331. sind, und ihren Spott über mich den ganzen Tag. $63$ Ihr
  332. Sitzen und ihr Aufstehen schau dir an! Ich bin ihr Spottlied.
  333.  
  334. $64$ Übe an ihnen Vergeltung, HERR, nach dem Werk ihrer Hände!
  335. $65$ Gib ihnen Verblendung des Herzens! Dein Fluch komme über
  336. sie! $66$ Jage ihnen nach im Zorn und rotte sie aus unter dem
  337. Himmel des HERRN!
  338.  
  339. \4\
  340. Das furchtbare Geschick Jerusalems durch Schuld der Propheten
  341. und Priester - Wunsch auf Vergeltung an Edom.
  342.  
  343. $1$ Wehe, wie dunkel ist das Gold geworden, [wie] entstellt
  344. das feine Gold! Wie liegen hingeschüttet die Steine des
  345. Heiligtums an allen Straβenecken!
  346.  
  347. $2$ Die Söhne Zions, die kostbaren, [einst] aufgewogen mit
  348. gediegenem Gold, wehe, wie sind sie irdenen Krügen
  349. gleichgeachtet, dem Werk von Töpferhänden!
  350.  
  351. $3$ Selbst Schakale reichen die Brust, säugen ihre Jungen.
  352. [Doch] die Tochter meines Volkes ist grausam geworden wie die
  353. Strauβe in der Wüste.
  354.  
  355. $4$ Die Zunge des Säuglings klebte an seinem Gaumen vor Durst;
  356. die Kinder verlangten Brot, niemand brach es ihnen.
  357.  
  358. $5$ Die [sonst] Leckerbissen aβen, verschmachteten auf den
  359. Straβen; die auf Karmesin getragen wurden, muβten auf Misthaufen
  360. liegen.
  361.  
  362. $6$ Und die Schuld der Tochter meines Volkes war gröβer als
  363. die Sünde Sodoms, das plötzlich zerstört wurde, ohne daβ Hände
  364. sich rührten.
  365.  
  366. $7$ Ihre Fürsten waren reiner als Schnee, weiβer als Milch;
  367. rosiger war ihr Leib als Korallen, [wie] Saphir war ihre
  368. Gestalt.
  369.  
  370. $8$ Dunkler als Ruβ ist [jetzt] ihr Aussehen, man erkennt sie
  371. nicht auf den Straβen; runzlig ist ihre Haut auf ihren Knochen,
  372. sie ist dürr geworden wie Holz.
  373.  
  374. $9$ Die vom Schwert Getöteten hatten es besser als die vom
  375. Hunger Getöteten, [denn] die verendeten [langsam], getroffen vom
  376. Mangel an Feldfrucht.
  377.  
  378. $10$ Die Hände weichherziger Frauen haben ihre Kinder gekocht;
  379. sie dienten ihnen als Speise beim Zusammenbruch der Tochter
  380. meines Volkes.
  381.  
  382. $11$ Der HERR hat seinem Grimm Genüge getan, hat seine
  383. Zornglut ausgegossen; und er hat in Zion ein Feuer angezündet,
  384. das [sogar] seine Grundmauern gefressen hat.
  385.  
  386. $12$ Die Könige der Erde hätten es nicht geglaubt, noch alle
  387. Bewohner des Erdkreises, daβ Gegner und Feind in die Tore
  388. Jerusalems eindringen würden.
  389.  
  390. $13$ Wegen der Verfehlungen ihrer Propheten, [wegen] der
  391. Sünden ihrer Priester, die in ihrer Mitte das Blut der Gerechten
  392. vergossen haben,
  393.  
  394. $14$ wankten sie [wie] Blinde auf den Straβen, besudelt mit
  395. Blut, so daβ man ihre Kleider nicht anrühren durfte.
  396.  
  397. $15$ `Weicht! Unrein! rief man ihnen zu. `Weicht, weicht!
  398. Nicht anrühren! Ja, sie muβten in die Ferne und heimatlos
  399. umherschweifen. Man sagte unter den Nationen: Sie dürfen [bei
  400. uns] nicht länger bleiben!
  401.  
  402. $16$ Das Angesicht des HERRN hat sie zerstreut, er schaut sie
  403. nicht mehr an. Auf die Priester hat man keine Rücksicht
  404. genommen, Greisen ist man nicht gnädig gewesen!
  405.  
  406. $17$ Noch vergehen unsere Augen [auf der Suche] nach Hilfe für
  407. uns - umsonst. Auf unserer Warte warteten wir auf eine Nation,
  408. die [doch] nicht retten kann.
  409.  
  410. $18$ Man belauerte unsere Schritte, so daβ wir auf unseren
  411. Plätzen nicht gehen konnten. Unser Ende nahte, erfüllt waren
  412. unsere Tage; ja, unser Ende kam.
  413.  
  414. $19$ Unsere Verfolger waren schneller als die Adler am Himmel.
  415. Auf den Bergen hetzten sie uns, in der Wüste lauerten sie uns
  416. auf.
  417.  
  418. $20$ Unser Lebensodem, der Gesalbte des HERRN, wurde in ihren
  419. Gruben gefangen, [er,] von dem wir sagten: In seinem Schatten
  420. werden wir leben unter den Nationen.
  421.  
  422. $21$ Sei fröhlich und freue dich, Tochter Edom, die du wohnst
  423. im Land Uz! Auch an dich wird der Becher kommen; du wirst
  424. betrunken sein und dich entblöβen.
  425.  
  426. $22$ Zu Ende ist deine Schuld, Tochter Zion! Nie mehr führt er
  427. dich gefangen fort. Er sucht deine Schuld heim, Tochter Edom,
  428. deckt deine Sünden auf.
  429.  
  430. \5\
  431. Klage über die Schreckensherrschaft der Feinde und Bitte um
  432. Gnade.
  433.  
  434. $1$ Gedenke, HERR, [all] dessen, was uns geschehen ist! Schau
  435. her und sieh unsere Schmach!
  436.  
  437. $2$ Unser Erbteil ist Fremden zugefallen, unsere Häuser
  438. Ausländern.
  439.  
  440. $3$ Waisen sind wir geworden, ohne Vater; unsere Mütter sind
  441. Witwen gleich.
  442.  
  443. $4$Unser Wasser trinken wir für Geld, unser Holz bekommen wir
  444. [nur] gegen Bezahlung.
  445.  
  446. $5$ Unsere Verfolger sitzen uns im Nacken; wir werden müde,
  447. [aber] man läβt uns keine Ruhe.
  448.  
  449. $6$ Ägypten gaben wir die Hand [und] Assur, um genug Brot zu
  450. essen zu haben.
  451.  
  452. $7$Unsere Väter haben gesündigt, sie sind nicht mehr. Wir aber
  453. tragen ihre Schuld.
  454.  
  455. $8$ Sklaven herrschen über uns; da ist niemand, der [uns] aus
  456. ihrer Hand herausreiβt.
  457.  
  458. $9$ Unter Lebensgefahr holen wir unser Brot, [bedroht] vom
  459. Schwert der Wüste.
  460.  
  461. $10$ Unsere Haut ist geschrumpft wie von einem Ofen wegen der
  462. Qualen des Hungers.
  463.  
  464. $11$ Frauen haben sie in Zion vergewaltigt, Jungfrauen in den
  465. Städten Judas.
  466.  
  467. $12$ Oberste wurden von ihrer Hand aufgehängt, die Ältesten
  468. entehrt.
  469.  
  470. $13$ Junge Männer müssen die Handmühle tragen, und Knaben
  471. stürzen unter der Holzlast zu Boden.
  472.  
  473. $14$ Die Ältesten bleiben vom Tor fern, die jungen Männer von
  474. ihrem Saitenspiel.
  475.  
  476. $15$ Die Freude unseres Herzens hat aufgehört, in Trauer ist
  477. unser Reigen verwandelt.
  478.  
  479. $16$ Gefallen ist die Krone unseres Hauptes. Wehe uns, daβ wir
  480. gesündigt haben!
  481.  
  482. $17$ Deswegen ist unser Herz krank geworden; wegen dieser
  483. [Dinge] sind unsere Augen verdunkelt,
  484.  
  485. $18$ wegen des Berges Zion, der verödet ist; Füchse streifen
  486. auf ihm umher.
  487.  
  488. $19$ Du [aber], HERR, bleibst in Ewigkeit, dein Thron von
  489. Generation zu Generation.
  490.  
  491. $20$ Warum willst du uns für immer vergessen, uns verlassen
  492. lebenslang?
  493.  
  494. $21$ Bring uns zurück, HERR, zu dir, daβ wir umkehren!
  495. Erneuere unsere Tage [,daβ sie werden] wie früher!
  496.  
  497. $22$ Oder solltest du uns endgültig verworfen haben, allzu
  498. zornig sein über uns?
  499.